Mit „Squid Game“ hat die südkoreanische Medienlandschaft abermals einen globalen Hit gelandet, der nicht nur einen teils absurden Hype in den westlichen Medien nach sich zog – die „BILD der Frau“ veröffentlichte gar Backrezepte zur Serie! –, sondern mittlerweile ein Phänomen für sich darstellt, welches niemand hätte vorausahnen können.
Manche Dinge kann man nicht vorausplanen. Sie passieren einfach. So simpel lässt sich vielleicht der Mega-Erfolg von Netflix‘ neuester Serie „Squid Game“ (2021) erklären. Am 17. September 2021 ging die südkoreanische Serie weltweit gleichzeitig online, aber der kommende Megaerfolg war anfangs noch nicht sofort abzusehen. In Südkorea startete „Squid Game“ übernatürlich gut, entwickelte sich allerdings erst über das erste Wochenende zu einem echten Hit, der sich in den kommenden Tagen zu einem Hype aufbaute. Dieser Hype wurde vor allem durch die Sozialen Netzwerke wie Facebook, Instagram und insbesondere Twitter weiterverbreitet. Plötzlich trendete der Hashtag „#SquidGame“ weltweit, sodass auch westliche Zuschauer, die die Serie gar nicht wirklich auf dem Radar hatten, neugierig danach suchten und letztlich wohl einschalteten.
Dies löste wiederum eine regelrechte Lawine aus, die zuerst von der Fachpresse mit typischen Clickbait- und Promotion-News behandelt, aber dann auch von der seriösen Presse teils reißerisch aufgegriffen wurde. Ob „BILD“, „Der Spiegel“ oder „Focus Online“, alle berichteten plötzlich über Netflix‘ neuestem Hit. Nicht nur über die Serie an sich, sondern auch über zahlreiche ihrer Neben-Phänomene, die sie (angeblich) ausgelöst haben soll. Zu den kuriosesten Meldungen gehörten: „Netflix-Serie löst Telefon-Terror bei Südkoreanerin aus“ oder auch „Squid Game in Schulen: Netflix-Hype um brutale Serie ist gefährlich, aber nicht neu“. Alleine die BILD-Zeitung veröffentlichte mindestens neun Artikel zur Serie, die allesamt auf der Startseite gefeautered wurden. Dies sind natürlich nicht immer inhaltlich wertvolle Artikel. Der „Stern“ beispielsweise verfasste einen ganzen Artikel über die sogenannten „Easter-Eggs“ der Show („Serien-Hit aus Korea: Diese Details haben Sie bei ‚Squid Game‘ bestimmt übersehen“). Noch vor geraumer Zeit waren solche Artikel übrigens als popkultureller Trivia-Snack für Nebenbei den YouTubern oder Filmseiten vorbehalten, aber wurden nicht als inhaltlich ausreichend für eine journalistische Publikation angesehen.
Aufgrund der Popularität der Serie kamen somit selbst die großen Titel der deutschen Medien-Szene nicht drumherum über „Squid Game“ zu berichten, auch wenn es eigentlich nicht viel zu berichten gab. Die Zuschauer wollten aber wohl mehr wissen als die Serie eigentlich hergab und Schlagzeilen über diese brachten eben die dementsprechenden Klick-Zahlen. Für die Nachfrage wurde schlichtweg ein Angebot erstellt. Letztlich eine Win-Win-Situation für Netflix. Eine bessere (Gratis-)Werbung konnte man sich gar nicht mehr wünschen. Ob die eigentlichen News zur Serie überhaupt einen echten inhaltlichen Nachrichtenwert besaßen, war eigentlich egal. Und so verwundert es auch gar nicht mehr, dass selbst die „BILD der Frau“ Back-Tipps zur Serie gab („‚Squid Game‘: So gelingen die Dalgona-Kekse auch daheim“). In einem Spiel der Serie müssen die Kontrahenten Zuckerfiguren aus einem Keks ohne Beschädigung sauber herausbrechen. Wer dies innerhalb weniger Minuten nicht schafft oder die Figur zerbricht, wird auf der Stelle per Kopfschuss hingerichtet. Die „BILD der Frau“ nahm dies als Anlass, um für die moderne Hausfrau (oder den modernen Hausmann) von Heute die Backanleitung zu den Zuckerkeksen bereitzustellen … ohne den Teil mit den Exekutionen, versteht sich.
Der eigentliche Witz ist aber, dass die Backanleitung zu den Keksen auf der Seite nicht einmal vorhanden ist. Lediglich die beiden Zutaten, Natron und Zucker, werden erwähnt. Vollkommen sinnfrei – es wird im Grunde nicht einmal mehr der in der Überschrift versprochene Inhalt transportiert – und im Kontext der Serienhandlung auch unglaublich zynisch.
Um Klicks, Shares und Views abzukriegen, gingen auch zahlreiche Marken in den sozialen Netzwerken auf den Hype ein und posteten Bilder und Tweets mit Referenzen zur Serie, was dann wiederum von der Presse für weitere Artikel aufgegriffen wurde („Netflix-Sensation sorgt für Aufruhr: Kaufland kontert Red Bull – und plötzlich mischt sich sogar Axe mit ein“).
Selbst das Fremdsprachen-Tool Duolingo behauptete in einem eigenen Blog-Posting, dass durch die Serie das Interesse am Erlernen der koreanischen Sprache bei ihnen gestiegen sein könnte („Squid Game could inspire a new wave of Korean language learners“) und erstellte hierfür sogar Diagramme, um diese Behauptung zu belegen. Natürlich lässt sich dies nicht unabhängig bestätigen, aber wichtig war anscheinend die bloße Assoziation mit der Serie.
Wer nach der Serie suchte, stieß somit früher oder später auf das kommerzielle Angebot von Duolingo. Oder Kaufland. Oder Red Bull. Oder Axe. Man wollte Teil des Hypes sein, auch wenn man mit diesem nicht einmal im Entferntesten etwas zu tun hatte. Denn warum sollte sich eine deutsche Einzelhandelskette überhaupt mit einer Serie inhaltlich in Verbindung bringen lassen, in der Menschen in einer wirtschaftlichen Notlage sich dazu gezwungen sehen andere Menschen in einer wirtschaftlichen Notlage teils bestialisch zu töten …?
Netflix konnte dies natürlich alles nur mehr als recht sein. Egal wie absurd die Verknüpfungen waren, eine bessere (und vor allem billigere) Werbung ging schon gar nicht mehr, wenn sogar deutsche Einzelhandelsketten oder österreichische Energy-Drink-Produzenten das eigene kommerzielle Produkt, die Streaming-Serie, im Zuge des Hypes indirekt bewarben (vielleicht hat aber auch einfach nur eine PR-Agentur verdammt gute Arbeit geleistet …). Die Reichweiten müssen gigantisch gewesen sein. Der Werbewert dürfte in die Millionen gehen. Wie gigantisch? Nun, nur auf der Facebook-Seite von „Neon Zombie“ hatten zwei Beiträge über „Squid Game“ eine natürliche Reichweite (ohne Werbung!) von rund 1,2 Millionen Usern. Solche Zahlen generiert man nicht ohne ein echtes Interesse.
Mittlerweile ließ Netflix offiziell verkünden, dass „Squid Game“ nach gerade einmal vier Wochen mit mehr als 111 Millionen Abrufen die erfolgreichste Serie des Streaming-Anbieters weltweit darstellt. Eine zweite Staffel ist laut Schöpfer Hwang Dong-hyuk angedacht. Natürlich stellen die 111 Millionen Abrufe keine kompletten Views der gesamten Serie dar. Netflix zählt einen View wohl bereits nach zwei Minuten einer Episode, da dies laut Konzern ausreichen soll, um ein „bewusstes Interesse“ seitens des Zuschauers zu bestätigen. Wie viele User „Squid Game“ komplett gesehen haben, ist demnach nicht bekannt. Allerdings hat ein Leak offenbart, dass Netflix an der Serie bisher einen Wert von rund 900 Millionen US-Dollar verdient haben soll. Diese Summe wurde anhand der Abrufzahlen der vorhandenen Abonnenten, als auch neuen Abonnenten sowie Alt-Abonnenten, die ihre Mitgliedschaft kurzfristig verlängerten, herausgerechnet. Aber was macht diesen Mega-Erfolg nun eigentlich aus? Darauf gibt es keine klare Antwort. Wie eingangs erwähnt, kann man solch einen globalen Hype kaum planen.
Das Konzept von „Squid Game“ ist letztlich nicht neu. Ähnliche Formate, in denen Kontrahenten aus dem Alltag um ihr Leben spielen müssen, gab es schon seit Jahrzehnten. In gewisser Hinsicht machte „Graf Zaroff – Genie des Bösen“ („The Most Dangerous Game“, 1932) den Anfang. Reiche Menschen jagen zur eigenen Belustigung arme Menschen. Abgewandelt wurde diese Prämisse mehrmals, so zum Beispiel unter Einbezug eines nach Sensationsgier geifernden Massenpublikums – man denke hierbei an den deutschen Fernsehfilm „Das Millionenspiel“ (1970) oder aber auch an die King-Verfilmung „Running Man“ („The Running Man“, 1987) –, letztlich lief es allerdings immer auf dasselbe Grundkonstrukt heraus. Vielleicht ist auch dies das Geheimnis des Erfolges. Die eigentlich Story ist nicht besonders schwer zu verstehen. Arm kämpft gegen Reich, um aus der Armut zu entfliehen. Dem Sieger winkt ein Leben ohne (finanzielle) Sorgen, ein Ausstieg aus dem Hamsterrad und dem ansonsten unerfüllbaren Versprechen des sozialen Aufstiegs. In einer Gesellschaft, in der durch die Corona-Krise besonders die Megareichen noch reicher wurden, während zinslose Sparbücher, steigende Energiepreise, Kurzarbeit, eine hohe Inflation und ein implodierendes Rentensystem die arbeitenden Bevölkerung bedrückt, macht es die Identifikation einfach. Auch, weil es sich bei vielen der in „Squid Game“ präsentierten Spiele tatsächlich um südkoreanische Kinderspiele mit simplen Regeln handelt, die allerdings auch für ein westliches Publikum leicht nachvollziehbar sind (oder sich auch mit westlichen Kinderspielen gar decken). Die gesellschaftlichen und kulturellen Kämpfe, die in „Squid Game“ ausgetragen werden, sind universell verständlich. In der südkoreanischen Gesellschaft aber tatsächlich noch stärker ausgeprägt als in vielen europäischen Ländern.
„Squid Game“ ist einfach strukturiert, auch wenn die Charaktere, die die Handlung tragen (und ertragen) komplex gestrickt sind. Die Storyline ist nicht neu, eher vertraut. Ein Einstieg in die Geschichte somit einfach. Durch das südkoreanische Setting bietet die Serie dennoch eine gewisse Exotik, die atmosphärische Abwechselung bringt. Es ist eine Gesellschaft, die teils tief gespalten ist und in der noch grundsätzliche Konflikte spürbar sind. Die Koreaner sind ein Volk, welches nicht nur geographisch, sondern auch ideologisch getrennt wurde, womit die südkoreanische Gesellschaft bis heute zu kämpfen hat. Demokratie gegen Autokratie, Kapitalismus gegen Kommunismus, Christentum gegen Konfuzianismus. Die koreanische Halbinsel hatte viele Herrscher in den letzten hundert Jahren und viel zu ertragen. Die ewige Suche nach einer echten Identität bestimmt demnach die Kulturlandschaft. Wie viele andere südkoreanischen Produktionen – man denke hierbei nur an den Oscar®-prämierten Film „Parasite“ („Gisaengchung“, 2019) – stellt „Squid Game“ eine Metapher auf diese südkoreanische Gesellschaft und ihre scheinbar ewig andauernden Konflikte dar. Davon geht zweifelsohne eine gewisse Faszination aus.
Ein Auszug aus meiner Retrospektive zum Film „Peninsula“. Erhältlich als Teil des Mediabooks von „Splendid Film“:
„Im Mittelpunkt des Films [‚Peninsula‘] stehen aber natürlich die Charaktere, die als Spiegelbild der zerrissenen südkoreanischen Gesellschaft angesehen werden können. Sie alle fühlen sich einem höheren Schicksal ausgeliefert. […] Der Hauptcharakter Jung-seok (Gang Dong-won) versucht dem tristen Exil in Hongkong zu entfliehen und wird hierbei auf das Versprechen einer Entlohnung in US-Dollar von einem markig auftretenden US-Amerikaner angestiftet. Jung-seok will nicht mit ihm kooperieren, sondern selbstbewusst ablehnen, aber er fühlt sich dazu gezwungen. Die Verheißung des Kapitals, welches aus der Hoffnungslosigkeit führen soll, spiegelt nicht nur den ewigen Konflikt der beiden konkurrierenden Systeme in Nord- und Südkorea wider, sondern auch das oft als verschwenderisch bezeichnete Dasein vieler Südkoreaner. Der Kapitalismus stellt ähnlich wie die soziale Marktwirtschaft in Deutschland einen Gründungsmythos Südkoreas dar, den nur wenige Südkoreaner infrage stellen. Selbst die ‚legale Diktatur‘ [des ehemaligen südkoreanischen Präsidenten] Park Chung-hees wird durch den teils drastischen wirtschaftlichen Aufschwung, der unter ihm stattfand, oft verharmlost. Ein Thema, welches übrigens westliche Zuschauer, oder eher Zuhörer, aus dem bekannten Poplied „Gangnam Style“, einer Parodie auf den egozentrischen und verschwenderischen Lebensstil der Reichen des Landes, bekannt sein könnte. So überrascht es auch überhaupt nicht, dass ein Hauptschauplatz des Films ein verlassenes Kaufhaus darstellt. Dies ist wohl keine Hommage auf George A. Romeros ‚Zombie‘, der ebenfalls in einem Kaufhaus spielte, sondern sicherlich eine Allegorie auf die Historie und Gesellschaft Südkoreas. In den Hallen des alten Konsums, den Tempeln der Chaebols [Großkonzerne], schlagen die Überreste des südkoreanischen Militärs ihre Zelte auf, angeführt von einem verschwenderisch (oder eben im Gangnam-Style) agierenden Captain namens Seo (Koo Kyo-hwan). Es sind die Fundamente, auf denen Südkorea aufgebaut wurde, Militär und Hyper-Konsum, und die mit aller Gewalt aufrecht erhalten werden sollen. Wer sich diesen Autoritäten nicht unterwirft, wird ausgestoßen und den Zombies zum Fraß vorgeworfen.“
Eine Abhandlung über das neue südkoreanische Kino und Fernsehen anhand des Beispiels „Peninsula“ (2019) findet sich übrigens auch in Neon Zombies Video-Kritik zum Film wieder.
Eine zweite Staffel von „Squid Game“ ist bereits angedacht. Das Ende suggeriert auch eine Fortsetzung der Geschichte. Ob diese an den überraschenden Erfolg der ersten Season anschließen kann, ist natürlich nur schwer vorauszusagen. Das südkoreanische Kino als auch Fernsehen wird allerdings weiterhin hochqualitative Werke produzieren, die weltweit Anklang finden werden. Das ist sicher. „Squid Game“ war nicht der Anfang, sondern nur die Konsequenz einer Kulturpolitik, die trotz harscher Fehler („schwarze Listen“, die Filmemacher von der Förderung ausschlossen) sich stets selber hinterfragt und die Courage hat sich nicht nur neu zu erfinden, sondern auch Risiken einzugehen. Die Südkoreaner produzieren große Gesellschaftsdramen genauso wie Zombiefilme auf Big-Budget-Niveau. So absurd es auch klingen mag, aber der Hype ist als Exempel für den Mut des südkoreanischen Films gerechtfertigt. Der Zuschauer belohnt diesen. Weltweit.
‐ Markus Haage
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