Im ominösen Internet herrscht mal wieder eine Form der Massen-Hysterie. Amazons „Herr der Ringe“-Serie „Die Ringe der Macht“ steht im Fokus der Empörung. Selbst Elon Musk hat sich in die Debatte eingeklinkt. Kritik ist selbstredend berechtigt, doch abermals entsteht ein sinnloser Culture War, der letztlich nur den berufsempörten Talking Heads von YouTube Klicks und Views beschert, aber die inhaltlich eigentlich spannende Debatte überhaupt nicht voranbringt. Auch, weil viele harte Kritiken von einer gewissen Heuchelei geprägt zu sein scheinen. Verurteilt man auf der einen Seite Abänderungen in modernen Adaptionen aufs Schärfste, so werden auf der anderen Seite alte Neuinterpretationen, die mit ihren Vorlagen manchmal kaum noch etwas gemein haben, als Kultfilme und Meisterwerke zelebriert.
Amazon Studios hat ihre Prestige-Produktion „Der Herr der Ringe: Die Ringe der Macht“ („Lord of the Rings: The Rings of Power“, 2022–) am 2. September 2022 weltweit online gestellt. Laut Amazon ein Hit. Die Premiere sahen global rund 25 Millionen Zuschauer. Zwar weniger als das Debüt der „Game of Thrones“-Spin-Off-Serie „House of the Dragon“ – diese wurde nur in den USA auf HBO von rund 10,2 Millionen Zuschauer geschaut –, aber dennoch ein beachtliches Ergebnis. Man könnte nun meinen, dass das enorme finanzielle Risiko sich gelohnt hat. Die Produktionskosten betrugen für gerade einmal acht Episoden rund 600 Millionen US-Dollar (inklusive Kauf der Rechte) –, doch glaubt man vielen kritischen Stimmen im Internet, dann scheint dies nicht der Fall zu sein. Die Serie wird teils hart zerrissen. Auf Rotten-Tomatoes.com beträgt das User-Rating gerade einmal 39 % (Stand: 08.09.2022). Amazon selber entschied sich gar, ihr Bewertungssystem (exklusiv für die Serie) vorerst abzuschalten. Man begründete dies mit sogenanntem Review-Bombing; dem massenhaften Posting negativer Rezensionen. Fairerweise muss man sagen, dass andere Plattformen wie Disney+ oder Sky gar keine Ratings zulassen. Es wäre somit gar nicht so besonders. Amazon bot dieses aber eben stets an, sodass die exklusive Sperre bei einem eigenen Prestige-Produkt tatsächlich etwas problematisch erscheint. Review-Bombing auf Amazon ist allerdings kein seltenes Phänomen. Es findet tatsächlich statt. Als „Der Prinz aus Zamunda 2“ („Coming 2 America“, 2021) online ging, waren am ersten Wochenende zeitweise 44 % aller Reviews Ein-Sterne-Ratings, die in ihrer Kritik stets von „Gender-Wahn“, „Wokeness“ und „Rassismus gegen Weiße“ faselten. Das Problem des Review-Bombings ist somit real, auch wenn Amazon bei einem eigenen Großprojekt anscheinend mit zweierlei Maß misst.
Wäre die Serie tatsächlich ein totaler Reinfall, inszenatorisch als auch dramaturgisch, so hätte man sicherlich damit leben können. Es wäre dann wohl einfach nur einer der teuersten Flops der Streaming- und Serien-Geschichte gewesen. Eine schmerzhafte Blamage, aber kein Untergang, auch wenn Amazon wohl die Zukunft ihrer Streaming-Strategie zum Teil von Erfolg und Misserfolg der Serie abhängig macht. Allerdings hinterlassen viele negative Reaktionen auch hier ein gewisses Geschmäckle. Auch aufgrund der Aggressivität mit der sie insbesondere auf der Plattform YouTube geäußert werden. Geht es wirklich noch um berechtigte Kritik an Kunst oder – plump ausgedrückt – einfach „nur“ um eine rassistische oder sexistische Agenda? Vielleicht auch nur gezielte Empörung, um so viele Klicks und Views wie möglich zu generieren?
Bereits im Vorfeld hat man das Casting der Serie scharf kritisiert. Oftmals, weil die Ethnie der Schauspieler nicht mit Tolkiens ursprünglicher Vision übereinstimmt. Es ist richtig, dass in Tolkiens Vorlage so gut wie gar keine farbigen Charaktere (mit Ausnahme vielleicht der Haradim) auftauchen. Daraus muss man nicht viel ableiten, sondern es im sozio-kulturellen Kontext bewerten. Tolkien war ein Produkt seiner Umwelt und ein Kind seiner Zeit. Es ist ein Werk aus der Perspektive eines weißen Engländers, geboren im Jahre 1892, der somit Ende des 19. Jahrhunderts sozialisiert wurde. Seine Sicht auf die damalige Welt spiegelt sich in seinem Werk wider. Dies kann man hinterfragen und darüber diskutieren, muss es allerdings stets im richtigen historischen Zusammenhang tun.
Die Welt hat sich seit der Erstveröffentlichung eines Werkes aus Mittelerde („Der kleine Hobbit“ anno 1937) radikal verändert. Sie ist kulturell weitaus stärker zusammengewachsen; Einwanderung hat vor allem die westlichen Nationen diverser gestaltet und neu geprägt. Dies beeinflusst selbstredend auch die Adaption klassischer Stoffe. Die große, spannende Identitätsfrage wird gestellt: Wenn man diese Stoffe erneut adaptiert, für wen werden sie dann gemacht? Für die heutige oder ursprüngliche Zielgruppe? Amazon, die die harten Anfeindungen ihres Casts verurteilen, ist selber der Überzeugung, dass Tolkien für alle Menschen da ist, unabhängig von Herkunft, Glauben oder Geschlecht.
Es ist eine im Ansatz absolut interessante Diskussion, aus der man viele Schlüsse und Erkenntnisse ziehen könnte, aber im Zeitalter der digitalen Hysterie, scheint kaum jemand an einer solchen Debatte interessiert zu sein. Knackige, simple Schlagzeilen zählen, die künstliche Aufregung nicht nur zum Aufhänger, sondern auch zum Inhalt machen. Es geht nicht mehr wirklich um eine echte Auseinandersetzung mit der jeweiligen Adaption, sondern schlicht um Klicks und Views innerhalb eines irren Culture Wars. Nach der Hysterie ist vor der Hysterie. Zahlreiche YouTuber haben dies quasi zum Geschäftsmodell erkoren und hangeln sich von Empörung zu Empörung. Ob Netflix‘ „Masters of the Universe: Revelation“ (2021), Warner Bros. „Dune“ (2021), Amazons „Der Prinz von Zamunda 2“ (2021) oder HBOs „House of the Dragon“ (2022-), eine neue Adaption wird angekündigt, ein neuer Grund zur Aufregung zwecks Generierung von Views wird gefunden. Dazu wird offizielles Pressematerial als Vorschaubild manipuliert, jeder Nebensatz als Indiz für die eigene Agenda negativ interpretiert, persönliche Probleme der Darsteller thematisiert und Verschwörungstheorien konstruiert. Im Falle von Kevin Smiths erwähnter Neuauflage von „Masters of the Universe“ – die übrigens tatsächlich einen knüppelharten Shitstorm über sich ergehen lassen musste – wurden sogar Falschinformationen gestreut.
Mittlerweile hat sich gar Elon Musk in die „Rings of Power“-Debatte öffentlich eingemischt. Neil Gaiman kritisiert seine Aussagen scharf.
Darunter leiden übrigens alle. Auch die Fans, die berechtigte Kritik an einer Umsetzung üben oder sich ernsthaft inhaltlich mit einer neuen Adaption auseinandersetzen. Ein weiterer negativer Nebeneffekt: Am Ende verlieren alle.
Diese Empörung ist natürlich nie wirklich repräsentativ. Es scheint sich um eine laustarke Minderheit zu handeln. Ansonsten ließe es sich kaum erklären, warum die stets scharf verurteilten Adaptionen immer wieder fortgesetzt werden. Aber dennoch sind sie natürlich vorhanden und ein hässlicher Teil der öffentlichen Debatte. Es ist in diesem Wirrwarr manchmal schwer, noch klar zu differenzieren, wer nun wirklich ein Interesse an einer echten Diskussion besitzt oder schlichtweg eine rassistische oder sexistische Agenda vorantreiben will – quasi das Anstreben der Normalisierung rechter Ideologien über die Kritik an popkulturellen Werken –, denn auch die großen Studios haben in der Vergangenheit solche Debatten leider selber angeheizt. Dies muss fairerweise erwähnt werden. Die Historie um „Ghostbusters“ (2016) belegt dies (im negativen Sinne) eindrucksvoll. Hier hatte ein Studio die berechtigte Enttäuschung der Fans regelrecht politisiert und in die Promotion einfließen lassen.
Die Debatte auf die drastischen Beispiele zu reduzieren, führt wohl leider zu nichts. Wer hassen will, wird hassen. Zumal die kritisierten Abänderungen gegenüber der Vorlage hausgemacht sind. „Die Ringe der Macht“ kann keine werkgetreue Adaption sein. Es handelt sich um eine vollkommen eigenständige Neuinterpretation des Stoffes; es ist kein Prequel zu Jacksons Trilogie. Demnach hat man sich gewisse Freiheiten genommen, die Welt erweitert und Figuren neu interpretiert. Amazon Studios besitzt lediglich die Verfilmungsrechte an den Anhängen der „Herr der Ringe“-Trilogie und kann nur innerhalb der dort verfassten Fakten eine Geschichte erzählen. Viel Mythologie und Kontext, der vor allem in der Sammlung „Das Silmarillion“ (1977) zu finden ist, fehlt somit. Die Frage ist aber, ob dies tatsächlich schlimm ist? Liegt es nicht in der Natur von Adaptionen, dass sie auch stets eine Neuinterpretation darstellen? Wie heuchlerisch die hysterischen Debatten mancherorts geführt werden, erkennt man leicht daran, welche Werke basierend auf Vorlagen als Kultfilme oder Meisterwerke angepriesen werden, die sich aber wiederum teils drastischen Abänderungen hingaben.
Als vielleicht perfektes Beispiel kann Ralph Bakshis Adaption „Der Herr der Ringe“ („The Lord of the Rings“, 1978) herhalten. Die Zeichentrick-Verfilmung war anno 1978 aufwendig und unüblich inszeniert, musste viel Handlung zusammenfassen, besitzt aber deswegen ihren ganz eigenen Charme und gibt eine vollkommen neue Perspektive auf den bekannten Roman, die wiederum Peter Jacksons Inszenierung enorm beeinflusste (Stichwort: Moria). Es existieren also zig tausend Möglichkeiten, einen Stoff zu interpretieren. Amazons „Die Ringe der Macht“ ist „nur“ ein weiterer Versuch, der sich natürlich im Jahre 2022 an ein globales Publikum richtet und somit von Natur aus diverser gestaltet ist. Ob die Serie inhaltlich packend und mitreißend ist, ist wiederum eine andere Frage, die die Zuschauer mit ihrem Interesse beantworten werden.
„Conan der Barbar“ (1982) ist ein grandioses Meisterwerk für die Ewigkeit, aber keine gute Verfilmung der Vorlage. Wohl nicht einmal im Geiste. Wie extrem der Film inhaltlich vom Original abweicht, erkennt man an der Figur Thulsa Doom, die in diesem Conan-Universum nichts zu suchen hat und auch komplett falsch dargestellt wird (es müsste sich hierbei eigentlich um den Schurken Thoth-Amon handeln). Thulsa stammt aus der Welt von Kull; einem anderen Zeitalter desselben Universums von Robert E. Howard. Egal, denn James Earl Jones‘ Spiel und John Milius‘ Inszenierung sind dermaßen brillant, dass man dies verzeiht. Insbesondere, wenn man sich dessen nicht bewusst ist. Denn wie viele Kids der 1980er-Jahre hatten vorab wirklich die Conan-Romane gelesen? Ihre erste Begegnung war sicherlich mit Schwarzeneggers Film. Dies prägte. Man nahm es als Standard hin. Der Film wurde Teil der Kindheit und Jugend und war somit über allem erhaben. Wie bunt und facettenreich Cimmeria, die Welt von Conan, tatsächlich ist, erfuhr man vielleicht erst viel später, wenn man eben die Romane oder auch die Comic-Adaptionen las.
Künstler brauchen Freiheiten bei der Adaption eines Stoffes. Nur so konnte Spielberg „Der weiße Hai“ („Jaws“, 1975), Copolla „Apocalypse Now“ (1979), De Palma „Scarface“ (1981), Carpenter „Das Ding aus einer anderen Welt“ („The Thing“, 1982), Cronenberg „Die Fliege“ („The Fly“, 1986), Tim Burton „Batman“ (1989) oder Jackson die „Herr der Ringe“-Trilogie (2001–2003) erschaffen. Eine Vorlage fast schon sklavisch zu verfilmen, ist künstlerisch wohl vollkommen sinnlos. Die meisten Debatten um Werktreue damit ebenfalls. Alle guten Adaptionen haben sich stets Freiheiten genommen, Stoffe teils radikal neu interpretiert oder modernisiert. So entstanden Klassiker für die Ewigkeit, die heutzutage kaum jemand missen möchte. Natürlich existierten auch schon vor vierzig Jahren aufgebrachte Fan-Gemeinden, die Neuerungen oder Abänderungen drastisch kritisierten – Carpenters „Das Ding aus einer anderen Welt“ wurde eben von Kritikern als auch Fans zerrissen –, aber die Empörungs-Maschinerie dahinter war eine vollkommen andere. Nach ein, zwei Leserbriefen in Print-Publikationen war die Debatte beendet und ein Werk konnte sein Publikum finden. Manchmal über Jahre, teils über Jahrzehnte. Oftmals geschah dies übrigens durch eine jüngere Generation, die sich nun vielleicht von „Die Ringe der Macht“ begeistern lässt. Die Zeit wird es zeigen. Eine zweite Staffel ist bereits in Produktion. Und die hysterischen Talking Heads von YouTube? Sie bereiten sich bereits auf die nächste Adaption vor. Die Empörungs-Maschinerie muss eben weiter laufen und dafür stets gut geölt werden.
‐ Markus Haage
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