Rabiat. Reaktionär. Realistisch. Und zugleich emotional, komplex, politisch. Dies alles (und noch soviel mehr) ist die erste Serien-Adaption von Marvels brachialen Vollstrecker Punisher. Drei filmische Adaptionen existieren bereits, aber keine kommt auch nur ansatzweise an die inhaltliche Komplexität der Serie heran.
Ich bin überrascht, dass die Kritiken vor allem in den anglo-amerikanischen Medien teils extrem mittelmäßig ausfielen. Ich kann mir dies nur so erklären, dass die Serie teils drastisch viele unpopuläre, aktuelle gesellschaftspolitische Themen aufgreift, die Superhelden-Thematik damit in ein hyperrealistisches Setting webt und sich massiv auch von den anderen Marvel-Netflix-Serien, wie etwa „Daredevil“ oder „Luke Cage“, abhebt. Alle großen inneramerikanischen Konflikte der letzten zehn Jahre, die die US-Gesellschaft zeitweise fast zerrissen haben, finden sich in der Serie wieder. Snowden, NSA, PTSD, Kriegsheimkehrer, Guantanamo, Blackwater, Korruption. „The Punisher“ legt den Finger in die noch sehr offenen Wunden der US-Gesellschaft, vor allem die der konservativen oder libertären Teile der Bevölkerung, die eine Figur wie den Punisher sicherlich nicht zwingend heroisiert oder unkritisch sieht, aber mit ihm vielleicht am ehesten sympathisiert. Ein Bürger, der das Recht in die eigene Hand nimmt (nur als grobe Stichwörter: 2nd Armandment, „Stand your own ground“-Law, etc.). Der titelgebende Held ist zudem extrem facettenreich, kein tollwütiger Hund. Bestrafung ist nicht Gerechtigkeit. Blinde Wut fordert Opfer. Kollateralschäden entstehen, physische als auch psychische.
Die Comicvorlage war nie wirklich schwarz und weiß, sondern oft sehr, sehr grau. Aber dennoch behielt der Punisher immer den Ruf eines klassischen Western-Outlaws. Er begeht böse Taten jenseits des Rechts, richtet diese aber gegen das Böse, was sie in einem bestimmten Kontext demnach gut erscheinen lassen. Aber das ist wohl eher ein Mythos. Es gibt natürlich nach 43 Jahren zahlreiche unterschiedliche Storylines und Interpretationen, die besten davon waren nie wirklich eintönig. Der hier präsentierte Punisher ist demnach nur eine weitere radikal neue Interpretation, die sich einem hyperrealistischen Setting unterwirft. Und gerade dies dürfte im Kontext der Geschichte viele us-amerikanische Kritiker verstörend finden. Dies ist natürlich eine Unterstellung meinerseits, basierend auf stichprobenartigen Rezensionen, die nicht zwingend repräsentativ sind. Aber anders kann ich mir die teils heftige Ablehnung nicht erklären. Ein europäisches Publikum, welches traditionell dem Militarismus und teils plakativen Heroismus kritischer gegenübersteht, dürfte diese Neuinterpretation wohl eher akzeptieren. Wer also eine SPIO-JK-Version des „A-Teams“ erwartet, wird demnach enttäuscht werden. Natürlich versteht sich „The Punisher“ auch als Drama-Serie. 13 Episoden müssen mit Inhalt gefüllt werden. Dass hier eine fortlaufende, komplexe Geschichte erzählt wird, und keine „Man on a Mission“-Episoden heruntergerattet werden, sollte der Zuschauer abkzeptieren.
Zudem fehlt jeglicher übernatürlicher Ansatz. „The Punisher“ könnte in dieser Staffel auch sehr gut als komplett eigenständige Serie funktionieren. Sie hebt sich nicht nur von den anderen Netflix-Heroen, sondern auch enorm vom gesamten MCU ab. Es ist kaum vorstellbar, dass dieser Punisher und Thor de facto im selben Universum leben (auch wenn es nur vage Referenzen der Kino-Abenteuer gibt, die den Zuschauer an diese erinnern).
Im Kontext des gesamten Netflix-Marvel-Universums, bestehend aus „Daredevil“, „Jessica Jones“, „Luke Cage“, „Iron Fist“ und „The Defenders“, muss man rückblickend sagen, dass es wohl besser gewesen wäre, wenn man „The Punisher“ später produziert hätte. Zuerst trat er als bedeutender und handlungstragender Nebencharakter in der zweiten Staffel von „Daredevil“ auf. Man merkt, dass die Serie nun versuchen muss, rückwirkend zahlreiche bedeutende Teile der Origin-Story einzubauen und nachzuerzählen. Dies gelingt nicht immer ganz souverän oder elegant, manchmal wirkt es etwas redundant, wenn man sich Staffel 2 von „Daredevil“ in Erinnerung ruft. Das ist teils etwas holprig. Auch besitzt die Serie das klassische Netflix-Problem aller Marvel-Helden. Man hätte anstatt 13 Episoden auch nur 10 inszenieren müssen. Der Mittelteil streckt sich etwas, aber daran ist man ja (leider) etwas gewöhnt.
„The Punisher“ ist politisch, dunkel, komplex, teils sehr hoffnungslos, und versteht sich als ein überzeichnetes Spiegelbild der westlichen Gesellschaft. Die Serie ist Fortsetzung als auch Origin-Story zugleich, so dass sie sicherlich nicht alle Erwartungen seitens der Fans an die Darstellung des klassischen Comic-Antihelden erfüllen kann. Dies wird sie aber sicherlich noch in folgenden Staffeln tun. Damit dies aber eben nicht als sinnlose, episodenhafte Revenge-Action verkommt, muss der Zuschauer sich die Zeit nehmen und in seine Welt abtauchen. Und dies je nach politischer Überzeugung kann für manch einen Zuschauer teils sehr schmerzhaft sein, weil auch dessen eigenes Weltbild in Frage gestellt wird.
‐ Markus Haage